Über Statistik und Forschung

In den Reflexionen über Lernen und Gedächtnis 2 habe ich die Untersuchung von Kornell und Bjork (2008) zur Selbstregulation beim Vokabellernen vorgestellt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Bedingung «Selbstregulation», bei der die Teilnehmenden entscheiden konnten, ob sie ein Vokabelpaar für weitere Lerndurchgänge beibehalten wollten oder nicht, zu weniger guten Lernleistungen geführt hat als die Bedingung ohne Selbstregulation. Vermutlich deshalb, weil die Selbstregulation dazu verführte, Vokabeln verfrüht als gelernt einzustufen und von weiteren Lerndurchgängen auszuscheiden. In Folgenden möchte ich den Untersuchungsplan und die Ergebnisse dieser Studie noch etwas detaillierter darlegen.

Wenn in der experimentellen Forschung zwei Bedingungen – in unserem Fall, zwei Lernbedingungen – miteinander verglichen werden, so gibt es prinzipiell zwei mögliche Vorgehensweisen: (1) Die Teilnehmenden werden nach dem Zufallsprinzip auf zwei Gruppen verteilt, welche dann die Untersuchung gemäss der einen oder der anderen Bedingung durchführen. Oder (2) alle Teilnehmenden der Untersuchung absolvieren sowohl die eine als auch die andere Bedingung. Bei der ersten Vorgehensweise spricht man in der experimentellen Forschung von einer Variation zwischen den Versuchsteilnehmenden und bei der zweiten Vorgehensweise von einer Variation innerhalb der Versuchsteilnehmenden. Der Vorteil der zweiten Vorgehensweise ist der, dass in der Regel weniger Teilnehmende benötigt werden, weil allfällige individuelle Unterschiede der rekrutierten Teilnehmenden bezüglich des interessierenden Masses (hier: bezüglich der Fähigkeit zu Lernen), sich gleichermassen auf die Leistungen in beiden Bedingungen auswirken. Allerdings müssen nun mögliche sogenannte «Störvariablen» bei der Versuchsdurchführung berücksichtigt werden. Zum Beispiel, die Ermüdung: Im Laufe der Untersuchung könnten die Teilnehmenden ermüden, sodass ihre generelle Lernfähigkeit im zweiten Teil der Untersuchung abnimmt. Oder, eine Trainingseffekt: Da die Teilnehmenden womöglich schon längere Zeit keine Vokabeln lernen mussten, könnten sie im Laufe der Untersuchung beim Vokabellernen effizienter werden. Um die Wirkung solcher «Störvariablen» auszugleichen, wird die Abfolge der Bedingungen variiert: jeweils die Hälfte der Teilnehmenden beginnt mit der Bedingung A (gefolgt von B) oder mit der Bedingung B (gefolgt von A). 

Auf diese Weise sind auch Kornell und Bjork (2008) bei ihrer Untersuchung vorgegangen. Als Lernmaterial verwendeten sie 40 Englisch-Suaheli-Wortpaare, unterteilt in zwei Listen à 20 Wortpaare, nämlich je eine Liste für die beiden Lernbedingungen. Als Untersuchungsteilnehmende wurden 60 Studierende rekrutiert (Studierende der Psychologie sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Ausbildung eine bestimmte Anzahl Stunden an wissenschaftlichen Studien teilzunehmen). Es gab zwei Lernblöcke à 10 Minuten mit je 20 Wortpaaren. Die Wortpaare wurden auf einem PC-Bildschirm wie folgt dargeboten: Zuerst das englische Wort für 1.5 Sekunden, gefolgt vom Suaheli-Wort während 3 Sekunden. Um mit dem nächsten Wortpaar fortzufahren, musste nun ein «Entscheidungsknopf» gewählt werden, nämlich «Study again later» oder «Remove from stack». Allerdings gab es diese Alternativen nur in der Bedingung mit Selbstregulation; in der Vergleichsbedingung ohne Selbstregulation wurde nur der Knopf «Study again later» präsentiert. Auf diese Weise wurden alle Wortpaare mehrmals dargeboten, bis die 10 Minuten pro Lernblock vorbei waren. Wie bereits gesagt, wurde die Abfolge der beiden Lernbedingungen und die Zuteilung der beiden Lernlisten auf die beiden Lernbedingungen so variiert, dass eine allfällige Auswirkung dieser Störvariablen auf die Testleitung ausgeglichen wurde.

Beim nachfolgenden Vokabeltest wurden dann Wörter beider Bedingungen resp. Listen in zufälliger Abfolge präsentiert. Dabei wurden die englischen Wörter gezeigt und die Teilnehmenden gebeten, das entsprechende Suaheli-Wort einzutippen. Dazu hatten sie für jede Vokabel 12 Sekunden Zeit.

Nun gab es bezüglich Testzeitpunkt eine weitere Variation: Entweder wurde der Test gleich anschliessend an die Lernphasen, oder erst nach einer Woche durchgeführt. Da diese Variation nicht innerhalb der Teilnehmenden variiert werden konnte (denn der erste Test hätte ja eine zusätzliche Konsolidierung des Lernens für den zweiten Test bewirkt) haben 31 Teilnehmende den Test sogleich absolviert, und die andern 29 Teilnehmende wurden nach einer Woche getestet.

Kurz zusammengefasst: Die Untersuchung beinhaltete einen 2 x 2 Versuchsplan mit zwei sog. unabhängigen Variablen, nämlich (1) die Lernbedingung (Selbstregulation versus keine Selbstregulation; Variation innerhalb der Teilnehmenden), und (2) der Testzeitzeitpunkt (unmittelbar versus nach einer Woche; Variation zwischen den Teilnehmenden). Dies ergibt die insgesamt vier Bedingungen, die in der Grafik der Ergebnisse enthalten sind, welche wir nun betrachten:

Beginnen wir mit dem Trivialen: Die Teilnehmenden, die den Vokabeltest unmittelbar nach den Lernphasen absolvierten, konnten durchschnittlich bedeutend mehr Vokabeln korrekt wiedergeben (2 Balken links), als jene, die erst nach einer Woche getestet wurden (2 Balken rechts).

Von zentralem Interesse ist nun aber die Frage, wie sich die Variable Lernbedingung auf die Erinnerungsleistung auswirkte. Es ist ersichtlich, dass bei beiden Testzeitpunkten mehr Suaheli-Vokabeln korrekt wiedergegeben wurden, wenn die Teilnehmenden NICHT selber entscheiden konnten, Vokabel-Paare beizubehalten oder auszuscheiden. Sind aber diese Unterschiede (zwischen den weissen und den schwarzen Balken) nicht relativ klein? Hierzu gilt es Folgendes zu bedenken: Intuitiv würde man ja eher annehmen, dass die Möglichkeit, Vokabeln beiseitezulegen (wenn sie beherrscht werden), die Lernzeit für jene Vokabeln erhöht, die eben noch nicht beherrscht werden, was doch insgesamt zu bessern Leistungen führen sollte. Wenn nun der Unterschied in die entgegengesetzte Richtung geht, so ist das doch umso eindrucksvoller.

Noch eine Anmerkung zu den Ergebnissen beim Test nach einer Woche. Hier ist ja die Differenz zwischen den beiden Bedingungen absolut betrachtet noch etwas geringer als beim unmittelbaren Test. Aber – im Verhältnis betrachtet – wurden in der «No-drop»-Bedingung fast doppelt so viele Vokabeln korrekt wiedergegeben als in der «Drop»-Bedingung. Das Beibehalten von Vokabel-Paaren in der «No-Drop»-Bedingung hatte zur Folge, dass diese Vokabeln während der Lernphase weiterhin mehrmals erfolgreich reproduziert wurden; und dieses Reproduzieren ist insbesondere für das langfristige Behalten von Vorteil. In der Gedächtnispsychologie sind zwei Theorieansätze oder Lernmechanismen bekannt, um diese Wirkung zu erklären: Der Generierungseffekt und der Testing-Effekt. Ich werde darauf in einer kommenden «Reflexion über Lernen und Gedächtnis» eingehen.

Sehnsucht nach dem Frühling

Schnee gab es diesen Winter nur wenig, frühlingshaft ist das Wetter im Moment aber noch nicht, die Sehnsucht nach dem Frühling ist aber da.

W.A. Mozart: Sehnsucht nach dem Frühling. Im Original für Singstimme und Klavierbegleitung mit dem Text „Komm, lieber Mai“ von Christian Adolf Overbeck.

Hier arrangiert für Blockflöte und Waldhorn.

Über Lernen und Gedächtnis 2

Beim Lernen von Vokabeln einer Fremdsprache kann die lernende Person selber regulieren, wie lange sie den Lernprozess fortführt und auch hier besteht die Gefahr, dass das Wiederholen abgebrochen wird, bevor die Vokabeln gut verankert sind. Beim Vokabellernen ist ja das Karteikarten-System (engl. dropping flashcards) verbreitet und auch effizient; heute wird dieses System natürlich mittels Tablets und Smartphones angewendet. Dabei hat die lernende Person die Möglichkeit der Regulation, indem sie eine Karte aus dem Stapel beiseitelegt, wenn sie glaubt, diese Vokabel in der Fremdsprache zu beherrschen. Dadurch wird Zeit gewonnen zum Lernen jener Vokabeln, die noch nicht abgerufen werden können.

Kornell und Bjork (2008) haben untersucht, ob durch diese Möglichkeit der Selbstregulation der Lernprozess optimiert wird. Dabei sind sie wie folgt vorgegangen:

An der Untersuchung nahmen 60 Studierende ihrer Universität teil, welche in zwei Lernphasen je 20 Englisch-Suaheli-Wortpaare lernen sollten. Das englische Wort wurde jeweils für 1.5 Sekunden gezeigt, dann das entsprechende Wort in Suaheli für 3 Sekunden. Die beiden Lernphasen dauerten je 10 Minuten. Hierbei wurden in der einen Lernphase alle Vokalbelpaar bis zum Schluss beibehalten. In der anderen Lernphase hingegen konnten die Teilnehmenden selber entscheiden, ob und wann ein Wortpaar beibehalten oder aus dem „Lern-Stapel“ entfernt wurde. Alle 60 Teilnehmende haben also beide Lernbedingungen durchgeführt. Anschliessend wurden 31 Teilnehmenden sofort getestet, wie gut sie die die Vokabeln erinnern konnten, während die andere 29 Teilnehmenden erst nach einer Woche getestet wurden. 

Hat nun die Möglichkeit der Selbstregulation zu einer Optimierung des Lernens geführt? Und wie sieht es mit dem langfristigen Lernen (also, erinnern nach einer Woche, aus? Die Ergebnisse sind in der folgenden Grafik dargestellt:

Es zeigte sich, dass die Vokabeln aus der selber regulierbaren („drop“) Lernbedingung schlechter erinnert wurden als jene aus der nicht regulierbaren („no-drop“) Lernbedingung und zwar sowohl wenn der Test unmittelbar („immediate“) nach den Lernphasen, als auch wenn er erst nach einer Woche („1 week“) stattfand.

Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass bei der Möglichkeit der Selbstregulation die Gefahr besteht, Lernmaterial zu früh beiseite zu legen, nämlich bereits nach einem erstmaligen korrekten Abruf. Dies bedeutet aber noch keinesfalls, dass die Vokabel bereits sicher erinnert werden kann. Es wäre also sinnvoll, das Wortpaar noch für einen weiteren Durchgang beizubehalten.

(Ich werde in einer kommenden Reflexion zur Kategorie „Forschung und Statistik“ detailliert auf die Vorgehensweise, den sogenannten Versuchsplan der Untersuchung, sowie auf die Darstellung und Interpretation der Ergebnisse eingehen.)

Referenz: Kornell, N., & Bjork, R. A. (2008). Optimising self-regulated study: The benefits – and costs – of dropping flashcards. Memory, 16, 125-136.

Über Lernen und Gedächtnis 1

Da ich mich in meinem Berufsleben als Forscher und Dozent mehrere Jahrzehnte lang mit Kognitionspsychologie und hauptsächlich mit den Themen Lernen und Gedächtnis befasst habe, liegt es nahe, dass ich auch hier gelegentlich über dieses Thema reflektiere. Dabei versuche ich, ausgehend von Beobachtungen aus dem Alltag, Hinweise zur Umsetzung von effizienten Lernprozessen zu geben (und allenfalls mit einer kurzen Darstellung von Forschungsergebnissen zu illustrieren).

Gelegentlich beobachte ich das Phänomen, dass Lernprozesse zu früh abgebrochen werden. Stellen Sie sich vor, Sie üben auf Ihrem Musikinstrument ein Stück ein und eine Passage, etwa ein Lauf mit schnellen Sechzehntel-Noten oder eine rhythmisch schwierige Phrase, bereitet Ihnen Schwierigkeiten. Oder: Eine Passage, die sie zwar allein gut beherrschen, gelingt beim Zusammenspiel im Ensemble nicht gut. Also, wird diese Passage wiederholt, meistens solange, bis sie ein erstes Mal hinlänglich gut gelingt; anschliessend wird das Stück fortgesetzt und es wird angenommen, beim nächsten Mal würde die schwierige Passage gelingen. Was allerdings oft nicht der Fall ist. Effizienter wäre es deshalb, nach einem ersten, hinreichend guten Durchlauf, die Repetition der Passage nochmals, vielleicht sogar noch zweimal, fortzuführen, um das Gelernte zu konsolidieren.

Der dargestellte Aspekt wird in der Lernforschung als Selbstregulation bezeichnet, denn es geht ja darum, wie der/die Lernende (oder das Ensemble) den Lernprozess reguliert, weiterführt oder abbricht. Dazu gibt es eine interessante Untersuchung zum Lernen von Vokabeln einer Fremdsprache, welche in der nächsten Reflexion zum Thema Lernen und Gedächtnis dargestellt wird. 

Älpler Weihnacht für drei Alphörner und Orgel

Zum Jahreswechsel 2022/23

Titel: Älpler Weihnacht für drei Alphörner und Orgel von Vinzenz Morger.
Gespielt: vom «Synthetischen Alphornensemble» [= generiert von MuseScore].
Partitur: Die Noten zu diesem Stück können beim Alphornnoten-Shop der ‚Esslinger Alphörner‘ erworben werden.

Titel: Älpler Weihnacht für drei Alphörner und Orgel von Vinzenz Morger